Das traurige Schauspiel dauerte den ganzen Tag. Über 300 Kinder versammelten sich in der Morgenkühle auf dem Marktplatz. Keines der Mädchen und Jungen in zerschlissenen Kleidern ist älter als 14 Jahre. Am Vormittag trafen die Bauern aus der Umgebung ein. Sie suchten Arbeitskräfte für Saat und Ernte. Mit derbem Griff befühlten die Landwirte dürre Kinderarme, begutachteten magere Waden. Lauthals tauschten sie sich über die Eignung der Kinderarbeiter aus und feilschten um deren Preis.
Wer diese Szene spontan nach Afrika verlegt, liegt falsch. Der Marktplatz, auf dem minderjährige Wanderarbeiter ihre Körper verkauften, gehört zur Stadt Friedrichshafen am Bodensee/ Deutschland. In manchen Jahren kamen mehrere Tausend sogenannte Schwabenkinder aus Tirol, Südtirol, Vorarlberg und der Schweiz nach Süddeutschland, um sich von März bis Oktober in der Landwirtschaft zu verdingen.
Die gute Nachricht lautet: Das alles ist 100 Jahre her. Den Friedrichshafener Schwabenkindern begegnen wir heute nur noch in Geschichtsbüchern. Die schlechte Nachricht ist: Schwabenkinder gibt es immer noch. Weltweit arbeiten rund 160 Millionen Minderjährige. Die meisten von ihnen leben allerdings nicht in Europa, sondern auf dem asiatischen, afrikanischen oder lateinamerikanischen Kontinent.
Eines Dieser Kinder ist Rangayya, ein elfjähriger Bub aus Indien. Seine Eltern hatten ihn vor etwa drei Jahren, als er acht war, weggegeben. An einen Mann der ein gut gehendes Gemüsegeschäft betrieb. Seither war Rangayya gezwungen zu arbeiten. Morgens um 4:00 Uhr begann er seinen Tag. Er erledigte Arbeiten im Haus, bevor er in das Gemüsegeschäft ging. Dort sortierte er das verfaulte Gemüse aus, richtete das schöne Gemüse für den Verkauf her oder verpackte es für den Transport. Nach einem anstrengenden und langen Arbeitstag kam er gegen halb zehn Uhr abends ins Haus zurück, wo er noch das Geschirr der Familie vom Abendessen abwaschen oder die Wäsche waschen und aufhängen musste. Dann durfte er sich endlich schlafen legen. Damit nach einer kurzen Nacht die Quälerei von neuem beginnen konnte. Die 600 Rupien, etwa 9 Euro, die Rangayya im Monat verdiente, bekamen seine Eltern. Doch nicht genug, dass der Bub schwere Arbeit verrichten musste. Sein „Besitzer“ und dessen Frau schlugen ihn. Beim nichtigsten Fehler bekam er mit einem Stock Schläge auf die Fingerknöchel oder den Rücken. Irgendwann konnte Rangayya die Qualen nicht mehr ertragen. Er beschloss wegzulaufen. Am Bahnhof von Bangalore fanden ihn schließlich Mitarbeiter der Salesianer Don Boscos. Mittlerweile geht es Rangayya gut. Er lebt im Don Bosco-Zentrum und geht zur Schule. Sein „Besitzer“ wurde wegen Verletzung der Kinderrechte angezeigt.
Es gibt zu viele Kinder wie Rangayya, denen ihre Rechte vorenthalten werden. Kinder, die unter unmenschlichen Bedingungen leben müssen, Kinder, die zur Arbeit oder Prostitution gezwungen werden, Kinder, die keine Chance auf Bildung bekommen. Jugend Eine Welt setzt sich für diese Kinder ein. Kinderarbeit führt immer zu neuer Kinderarbeit. Wer nie ausgebildet wurde, setzt die eigenen Kinder auch nicht auf die Schulbank. Ein Ausweg heißt „Bildung“.
Presseartikel vom 13.12.2022
„Wahrhaftig ein wehmuterregender Anblick: Diese armen Kinder, mit einem Bündelchen auf dem Rücken … wie sie ihrer Heimat den Rücken kehren und in die Fremde ziehen müssen.“ So geben zeitgenössische Berichte das Schicksal jener Kinder aus (Süd-)Tirol, Vorarlberg und der Schweiz wieder, die bis weit in das 20. Jahrhundert hinein im Frühjahr – oft begleitet von geistlichen Herren – in das „Schwabenland“ zogen, um dort bei meist wohlhabenden Bauern zu arbeiten. Der Alltag für diese Kinder war vielfach hart und entbehrungsreich.
Was diese „Schwabenkinder“ alles erdulden mussten, darüber erzählt Schauspieler Tobias Moretti zusammen mit Betroffenen und Experten in einer Dokumentation auf „Servus TV“ (Ausstrahlungstermin war Montag, der 19. Dezember 2022 in der Sendung „Bergwelten“, abrufbar in der Servus-Mediathek). Moretti spielte in dem 2003 von ORF und Bayrischen Rundfunk produzierten Heimatfilm „Schwabenkinder“ eine der Hauptrollen: den Kooperator, der eine Gruppe von Kindern auf ihrem mühseligen Weg über die winterlichen Berge bis nach Ravensburg begleitet. Dort werden die Kinder auf dem historisch belegten Kindermarkt als billige Arbeitskräfte an Bauern oder etwa als günstige Haushaltshilfen an bürgerliche Familien „verkauft“. Der Film basiert auf dem Roman „Die Schwabenkinder – Die Geschichte des Kaspanaze“ von Elmar Bereuter. Jugend Eine Welt selber veröffentlichte mit dem Don Bosco Verlag bereits 2004 das Theaterstück „Lechtaler Schwabenkinder“ der Außerferner Autorin Claudia Lang.
Straßenkinder heute
„Auch heute zwingt Armut viele Eltern dazu ihre Kinder wegzuschicken“, sagt Reinhard Heiserer, Geschäftsführer der Hilfsorganisation Jugend Eine Welt, anlässlich der Ausstrahlung der neuen TV-Doku. Wenn auch längst nicht mehr in Europa, aber in vielen Ländern des Globalen Südens. Wenn man so will, dann sind nun „die Schwabenkinder von damals die Straßenkinder von heute.“ Jugend Eine Welt, 1997 vom Außerferner Reinhard Heiserer mitgegründet, setzt sich unter dem Leitgedanken „Bildung überwindet Armut“ weltweit für Kinder und Jugendliche in Risikosituationen sowie eine nachhaltige Entwicklungszusammenarbeit ein.
Viele Kinder sind gezwungen, schon in sehr frühen Jahren arbeiten zu gehen, um das oftmals mehr als karge Familieneinkommen aufzubessern. Die internationale Arbeitsorganisation ILO (eine Sonderorganisation der UN) schätzt die Zahl arbeitender Mädchen und Buben auf weltweit gut 160 Millionen, etwa 79 Millionen dieser Kinder sind von besonders gefährlicher oder ausbeuterischer Kinderarbeit betroffen. Die meisten von ihnen schuften laut Statistik in Ländern in Asien, Afrika und Lateinamerika. Wie einst die Schwabenkinder, arbeitet ein großer Teil im Bereich der Landwirtschaft, gefolgt vom Dienstleistungsbereich sowie Industrie und Gewerbe.
Gegen ausbeuterische Kinderarbeit
„Nicht jede Kinderarbeit ist schädlich, wir kämpfen gegen ausbeuterische Kinderarbeit“, erklärt Heiserer. Am Bauernhof der Familie mithelfen, nach der Schule auf Geschwisterkinder aufpassen oder ähnliches ist noch nicht schädlich. Heiserer: „Aber Kinder, die in Minen rackern, 100 Stunden in der Woche als billige Haushaltshilfen oder in Kakaoplantagen und Ziegelfabriken schuften - das ist ausbeuterisch.“ Damit sich Konsumenten beim Kauf von Produkten aus dem Globalen Süden sicher sein können, dass keine Kinderarbeit darinnen steckt, engagiert sich Jugend Eine Welt mit anderen Akteuren für ein starkes Lieferkettengesetz in Österreich bzw der EU. Dieses soll sicherstellen, dass Produzenten bzw. Händler keine Produkte zweifelhafter Herkunft mit Beteiligung von Kinderarbeit auf den Markt bringen. Beginnend von Lebensmitteln wie Kaffee oder Orangensaft aus Südamerika, über Kleidungsstücke wie Hemden oder Hosen aus Asien oder Rohstoffen aus den Minen in Afrika. „Ausbeuterische Kinderarbeit darf nicht ein Baustein des Fundaments unseres Wohlstandes sein“, so Heiserer.
Jugend Eine Welt unterstützt gemeinsam mit seinen Projektpartnern in vielen Ländern in Asien, Afrika und Lateinamerika Einrichtungen, die Kindern und Jugendlichen den Besuch einer Schule oder einer Ausbildungs(werk)stätte ermöglichen. Denn eine qualitätsvolle Ausbildung ist ein wesentlicher Grundstein dafür, der Armut zu entkommen - wie einst bei den Schwabenkindern auch heute eine der Hauptursachen für Kinderarbeit.