Er stammt aus Adigrat in Tigray und war Vorstand der Salesianer Don Boscos in Äthiopien. Nach Absolvierung eines mehrjährigen psycho-spirituellen Programms zu Leadership und Ausbildung in Italien ist Abba Estifanos, wie er von allen genannt wird, zurück in seiner Heimat und kümmert sich nun um Kriegstraumatisierte.
Was sind die größten Herausforderungen für benachteiligte Gruppen in Äthiopien?
In erster Linie betrifft es vor allem Menschen, die durch den Krieg in Tigray vertrieben wurden. Eine große Gruppe leidet noch immer unter Nahrungsmittel- und Wasserknappheit – das ist eine sehr große Herausforderung. Außerdem erleben wir gerade im Norden sehr viel irreguläre Migration, was die Lage zusätzlich erschwert.
Durch den Krieg in Tigray haben wir auch eine starke Traumabelastung. Ein weiteres Resultat ist Sucht in verschiedenen Formen. Im Norden ist das soziale Gefüge zerstört, viele Menschen verfallen Abhängigkeiten – Alkohol und andere Substanzen, inzwischen auch harte Drogen. Das führt oft zu Kriminalität und belastet die Gesellschaft enorm.
Hinzu kommen Probleme im Gesundheitswesen und Bildungsbereich. Das betrifft auch die zentralen Regionen. Dort spielt vor allem Arbeitslosigkeit eine große Rolle. In den Städten herrscht zudem eine enorme Wohnungsnot.
Wie reagieren die Salesianer Don Bosco auf all das?
Wir konzentrieren uns auf Bildung, Jugendarbeit und Traumaheilung. Gemeinsam mit Partnern aus Europa wie Jugend Eine Welt haben wir Programme entwickelt, die von Schulen und Jugendzentren über Trainings und Jobvermittlung bis zu Traumatherapie reichen. Gerade für Frauen, die im Krieg sexualisierte Gewalt erlebt haben, und für Kinder gibt es spezielle Hilfen. In all unseren Zentren haben wir sogenannte Listening Units. Das sind Räume, wo Menschen jederzeit vorbeikommen, sprechen und sich austauschen können – und wo ihnen jemand zuhört. Auch Sport, Theater, Musik und Tanz gehören zu unserem Heilungsansatz.
Dazu kommen Nothilfen wie Lebensmittelverteilung, besonders für Frauen und Kinder, sowie Patenschaftsprogramme für Waisen. Wir arbeiten auch an Migrationsprävention durch Aufklärung. Dazu gibt es Trainings, die auf den Arbeitsmarkt abgestimmt sind – zum Beispiel in Friseurhandwerk, Gastronomie oder Solartechnik. Selbst kurze Kurse eröffnen Jugendlichen Jobmöglichkeiten, die wir direkt mit Arbeitgebern verknüpfen.
Wie entstand die Idee der Listening Units?
Als uns die ersten Berichte über massenhafte sexualisierte Gewalt erreichten, war mir klar: Wenn wir nichts tun, werden viele Frauen dauerhaft psychisch erkranken. Ich habe damals von Italien aus unter anderem mit Jugend Eine Welt gesprochen. Daraus entstand die Idee psychosozialer Unterstützung, die vor Ort zu den Listening Units entwickelt wurde. Das Programm funktioniert sehr gut, auch wenn die Mitarbeitenden selbst Unterstützung brauchen, weil sie sehr belastende Geschichten hören.
Diese Traumatisierung wird uns noch lange begleiten. Familienstrukturen sind zerstört, Scheidungen nehmen stark zu, Kinder wachsen in traumatisierten Familien auf. Darum brauchen wir dringend Familientherapie und mehr psychosoziale Fachkräfte.
Was ist Ihre Aufgabe?
Ich bin für den Schwerpunkt Trauma und transgenerationale Traumatisierung verantwortlich. Wir kooperieren mit der Universität Mekelle, um Familientherapeuten auszubilden. Wir laden auch Therapeuten aus dem Ausland ein, die unsere Mitarbeiter unterstützen. Langfristig wollen wir mehr Sozialarbeiter und Psychologen qualifizieren. Training ist entscheidend für alle, die mit Menschen arbeiten – Lehr- und Gesundheitspersonal, Priester. Denn viele von ihnen sind selbst traumatisiert.
Bereits seit 2015 gibt es ein Projekt zur Solartechnik-Ausbildung.
Ja, damals haben wir gemeinsam mit Hannes Velik von Jugend Eine Welt die erste Solarausbildung in Äthiopien begonnen – noch ohne rechtliche Standards. Viele waren skeptisch, auch in unserer Gemeinschaft, aber wir sagten: Die Zukunft liegt in erneuerbarer Energie.
Wir kombinierten Solartechnik mit Elektro- und Elektronikausbildung, damit Absolventen bessere Chancen haben. Heute wächst die Nachfrage – zum Beispiel wollen Gesundheitszentren in Tigray auf Solarenergie umstellen, da das Stromnetz unzuverlässig ist. Während des Krieges hatten nur unsere Häuser mit Solaranlagen Licht, während ganze Städte im Dunkeln lagen. Die Ausbildung läuft bis heute kontinuierlich weiter, denn Installation und Wartung sind gefragte Kompetenzen.
Wie erleben Sie die Zusammenarbeit mit Jugend Eine Welt?
Es ist eine schöne und sehr positive Kooperation. Sie sind offen, engagiert und unterstützen uns nicht nur in Nothilfe, sondern auch bei langfristigen Projekten wie Gesundheit, Katastrophenvorsorge und Nachhaltigkeit.
Was gibt Ihnen persönlich Hoffnung für die Zukunft?
Ich bin gläubig und vertraue darauf, dass Gott unserem Land Frieden schenkt. Natürlich müssen wir unseren Teil dafür tun, aber Frieden ist das erste Ziel. Ich glaube daran, dass wir junge Menschen zu resilienten Persönlichkeiten formen können – Menschen, die auch in schwierigen Zeiten wachsen. Wir müssen sie ermutigen, ihr Bestes zu geben, egal ob im Krieg oder im Frieden.